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Anna Elisabet Weirauch (1887-1970)


Elisabeth Weirauch, Berlin 1930 © Rose Nicolaer, Sammlung Andreas Sternweiler Berlin

"Kann denn Liebe Sünde sein?" Zarah Leanders gesungene Frage hätte Melitta Rudloff, Hauptfigur des "Kultbuches" Der Skorpion, sicher verneint. Wahre Liebe – wie ihre zu der schönen Olga Rado – war jenseits von Schmutz und Sünde. Verfochten hat diese Ansichten die Schriftstellerin Anna Elisabet Weirauch (1887–1970) in ihrem 1919 erschienenen Roman – zu einer Zeit also, als Frauenbeziehungen keineswegs als salonfähig galten.


Das Thema schien Elisabet Weirauch am Herzen zu liegen, denn sie begnügte sich nicht mit einem Band: 1921 folgte der zweite und 1931 der dritte Teil der Trilogie, die erst zu Beginn der 90er Jahre komplett neu aufgelegt wurde (bereits 1977 hatte das Lesbische Aktionszentrum Berlin den ersten Band als Raubdruck wieder zugänglich gemacht, weil dieses Buch „ für uns einen Beitrag darstellt zu unserer schlecht oder meist gar nicht dokumentierten Geschichte“). Auch im Ausland fand der Roman Anklang: In den USA erschienen zwischen 1932 und 1975 mehrere Übersetzungen.


Worum geht es in diesem Buch – einem der ersten Romane im deutschsprachigen Raum, in dem Frauenliebe offen und positiv dargestellt wird? Melitta Rudloff, genannt Mette, stammt aus einer gutbürgerlichem, aber lieblos-strengen Berliner Familie. Mit zwanzig lernt sie die rund zehn Jahre ältere Olga Rado kennen und ist sofort völlig fasziniert von dem Wissen, dem Charme und der Schönheit dieser aus Wien stammenden Frau. Langsam entsteht eine geistige Freundschaft und erotische Nähe zwischen beiden Frauen, die von Mettes Angehörigen argwöhnisch beobachtet wird. Schließlich kommt es auf Mettes Initiative zur ersten stürmischen Liebesnacht zwischen beiden – deren Beschreibung für die damalige Zeit durchaus gewagt und einmalig ist.


Mithilfe eines Detektivs und eines Psychiaters versucht Mettes Familie, die Liebesbeziehung zwischen beiden Frauen zu unterbinden. Als das nichts fruchtet, schalten sie die Polizei ein – Mette ist schließlich noch nicht volljährig, und das ist doch „Verführung von Minderjährigen“! Als die Polizei vor der Tür von Olgas Pensionszimmer steht, um Mette abzuführen, verleugnet Olga ihre Beziehung. Sie, die schon einmal, in Österreich, angezeigt worden war, hält dem Druck nicht länger stand und erschießt sich kurz darauf. Aus Angst vor Diskriminierung will sich Mette nun in eine Ehe flüchten, doch als sie – inzwischen volljährig geworden – ein nicht unbeträchtliches Vermögen erbt, löst sie sich aus der Verlobung und von ihrer Familie und begibt sich auf Reisen. In München lernt sie die homosexuelle Subkultur kennen und hat eine aufreibende Affaire. Doch Sexualität ohne eine geistige Beziehung ist für Mette auf Dauer nicht lebbar. Sie flüchtet deshalb nach Hamburg, wo sie sich anzupassen versucht.


In Berlin kommt es schließlich zu einem weiteren Abenteuer, mit Cora von Gjellerström, die früher einmal Olgas Geliebte war. Cora schenkte Olga einst ein Zigarettenetui mit einem eingravierten Skorpion – Olgas Lieblingstier, weil es sich in auswegloser Situation mithilfe seines Stachels selbst umbringe. Schließlich beginnt Mette ein neues Leben auf dem Land. Es kommt zwar nicht zu einem Happy-End in Zweisamkeit, eine spätere Liebesbeziehung wird aber auch nicht prinzipiell ausgeschlossen.


Indem Weirauch einfühlsam nicht nur den Entwicklungsprozeß einer lesbischen Frau schilderte, sondern auch verschiedene Formen der Diskriminierung lesbischer Frauen (und schwuler Männer) darstellte, ergriff sie Partei – gegen Vorurteile und Klischees. In anderen zeitgenössischen Werken wurde Homosexualität dagegen in der Regel mit Verbrechen, Krankheit oder Sünde assoziiert. Weirauch suchte auch nicht nach Erklärungen für die vermeintlichen Ursachen des Lesbischseins – im Unterschied zu den meisten Sexualwissenschaftlern jener Zeit. Dies dürfte die grosse Popularität erklären, die Der Skorpion in der Weimarer Republik genoss – übrigens nicht nur in lesbischen Kreisen, wie verschiedene Rezensionen zeigen. "Für mich war das Buch eine Offenbarung, ich erkannte mich darin wieder", erzählte mir Hilde Radusch, eine Berliner Zeitzeugin. Das Buch habe damals auf sie "einen ungeheuren Eindruck" gemacht.


Ausgerechnet mit diesem heiklen Sujet begann Weirauchs Karriere als Autorin; als Schauspielerin hatte sie sich bereits einen Namen gemacht. Sie wurde als jüngstes von vier Kindern am 7. August 1887 in Galatz in Rumänien geboren. Nach dem Tod des Vaters 1891 – er war Gründer der rumänischen Staatsbank – zog die Mutter, die aus einer hugenottischen Pfarrersfamilie stammte, bald mit ihren Kindern nach Deutschland. Nach dem Besuch einer höheren Töchterschule erhielt Weirauch früh Gesangs- und Schauspielunterricht. Nach ersten Engagements in Halle und Hamburg verpflichtete sie Max Reinhardt ans Deutsche Theater, wo sie 1906 ihren ersten Auftritt in Shakespeares Wintermärchen hatte. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges trat Elisabet Weirauch in zahlreichen Reinhardt-Inszenierungen auf. Nach ersten schriftstellerischen Versuchen während ihrer Theaterzeit widmete sich Weirauch nach 1918 hauptberuflich dem Schreiben und avancierte bald zu einer erfolgreichen Unterhaltungsschriftstellerin. Im Lauf ihres Lebens verfaßte sie über 60 Romane, die z.T. als Fortsetzungen in verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen erschienen. Meistens stehen Frauenschicksale im Vordergrund, so z.B. in Ruth Meyer (1922) und Lotte (1932) oder Das Rätsel Manuela (1939), und nicht selten ist Berlin Schauplatz der Handlung.


Der Skorpion ist wohl ihr einziger Roman, der sich dem Thema lesbischer Liebe widmet (1919 erschien eine Novelle über eine homoerotische Jungenfreundschaft, Der Tag der Artemis). Allerdings ist Der Skorpion auch die einzige Trilogie der Autorin, was auf eine intensive Beschäftigung mit dem Thema schließen läßt. Hatte der Roman womöglich einen autobiographischen Hintergrund oder schrieb sie lediglich in aufklärerischer Absicht? Darüber kann nur spekuliert werden. Seit Mitte der 20er Jahre bis zu ihrem Tod lebte die Autorin mit Helena Geisenhainer, einer zehn Jahre jüngeren Holländerin, zusammen. In den 30er Jahren siedelten sie von Berlin-Schöneberg nach Gastag in Oberbayern über. Um weiter veröffentlichen zu können, trat Weirauch der Propagandaminister Goebbels unterstehenden „Reichsschrifttumskammer“ bei; der NSDAP gehörte sie nicht an. In der NS-Zeit veröffentlichte sie nicht weniger als 21 Romane. Soweit feststellbar, waren diese frei von nationalsozialistischer Ideologie und unterschieden sich in Stil und Inhalt kaum von den vorhergehenden. Nur eines ihrer Bücher – Der Skorpion – wurde von den Nazis auf die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums" gesetzt und musste aus Buchhandel und Büchereien entfernt werden.


Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten Elisabet Weirauch und ihre Freundin zunächst in München; 1961 kehrten sie nach West-Berlin zurück, wo sie im Käte-Dorsch-Heim für ehemalige Schauspielerinnen wohnten. Dort war die Autorin bis kurz vor ihrem Tod am 21. Dezember 1970 weiterhin schriftstellerisch tätig. Helena Geisenhainer verstarb am 10. August 1990. Ihre letzte Ruhestätte fanden beide auf einem Friedhof in Berlin-Reinickendorf.



© Claudia Schoppmann (Berlin 2005)


1992/93 erschienen im Feministischen Buchverlag (Wiesbaden) alle drei Bände des Skorpions; der 1. Band ist inzwischen vergriffen (ebenso die im Ullstein Verlag 1993 erschienene Neuauflage).


Das Lesbenarchiv „Spinnboden“ (Anklamer Str. 38, 10115 Berlin) besitzt einige Bücher von Anna Elisabet Weirauch sowie Dokumente aus dem Nachlass.


Für Friedhofsgängerinnen: Domkirchhof St. Hedwig, Ollenhauerstr. 27,
Berlin-Reinickendorf (Abt. FIII, Reihe 2, Nr. 14/15).


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Zitiervorschlag:
Schoppmann, Claudia: Anna Elisabet Weirauch (1887-1970) [online]. Berlin 2005. Available from: Online-Projekt Lesbengeschichte. Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane. URL <https://www.lesbengeschichte.org/bio_weirauch_d.html> [cited DATE].