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"… der Brand wird nicht erlöschen bis Deine Lippen mich berühren"1
– Marie Fillunger (1850-1930) und Eugenie Schumann (1851-1938)

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Die österreichische Sopranistin Marie Fillunger lernte die Klavierpädagogin Eugenie Schumann 1874 in Berlin kennen – und lieben:

Den Kontakt hatte der Komponist Johannes Brahms (1833-1897) ermöglicht, ein gemeinsamer Bekannter und enger Freund vor allem von Eugenies Mutter, der Pianistin Clara Schumann (1819-1896).

Die beiden jungen Frauen verstanden sich gut und aus der Freundinnenschaft entstand eine Liebesbeziehung. Notgedrungen war es eine Fernbeziehung. Denn Marie Fillunger war als Sopranistin oft auf Reisen. Was für das Paar womöglich nicht immer einfach war, ist für die Forschung heute ein Glücksfall. Denn die Verbindung zwischen den beiden Frauen* ist vor allem durch ein stattliches Konvolut von rund 800 Briefen überliefert, die Fillunger an Eugenie Schumann in der Zeit zwischen 1875 und 1893 schrieb.2 Nach Fernbeziehung und Hausgemeinschaft mit einer von Eugenies Schwestern und ihrer Mutter in Frankfurt lebten die beiden Frauen von etwa Herbst 1891 bis zu Fillungers Tod im Dezember 1930 zusammen. Die Musikerinnen verfolgten eigene Karrieren.


Gefeierte Sängerin: Die Sopranistin Marie Fillunger

Marie Fillunger wurde als Drittes von insgesamt acht Kindern in eine wohlhabende bürgerliche Wiener Familie geboren. Ihr Vater war Eisenbahningenieur und Direktor der Nordbahn; ihre Mutter kam aus einer angesehenen Industriellenfamilie. Schon als Sechsjährige erhielt Marie Gesangsunterricht und trat 1868 das erste Mal öffentlich als Sängerin auf. Von 1869 bis 1873 studierte sie bei Mathilde Marchesi de Castrone (1821-1913) am Wiener Konservatorium und erhielt Auszeichnungen für ihre musikalischen Leistungen.3 Johannes Brahms empfahl ihr, an der Hochschule für Musik in Berlin ihre Studien fortzuführen und bei Familie Schumann vorzusprechen. Die beiden jungen Frauen verstanden sich wohl auf Anhieb. In dieser Zeit konnte Fillunger bereits große Erfolge als Sängerin feiern und war häufig unterwegs; gleichwohl hielt sie den Kontakt mit Eugenie. Aber als die Schumanns aus beruflichen Gründen nach Frankfurt am Main zogen, zog Marie Fillunger nach und mietete sich ganz in der Nähe von ihnen ein. Die englische Komponistin und Frauenrechtlerin Ethel Smyth (1858-1944)4 traf Marie Fillunger 1883 bei den Schumanns, wo die Sängerin sehr schüchtern gewirkt haben soll.5 Dennoch war Fillunger sehr häufig Gast bei den Schumanns; etwa 1884 durfte sie in dem von Clara Schumann inzwischen gekauften Haus in ein Zimmer ziehen, das direkt neben dem von Eugenie lag.6

Anfangs scheinen sich Clara Schumann und ihre älteste Tochter Marie (1841-1929) noch gut mit Marie Fillunger verstanden zu haben. Um Verwechslungen zwischen den beiden Maries zu vermeiden, wurde Letztere "Fillu" genannt. Clara, Marie und Eugenie Schumann bildeten eine Hausgemeinschaft mit ihr, und die führte auch zu gemeinsamen Auftritten von Clara und Fillunger. Aber dann muss es zu starken Zerwürfnissen gekommen sein. Die Forschung ist sich einig, dass die Beziehung zwischen Eugenie und "Fillu" für Clara Schumann einige Probleme aufwarf: Immerhin handelte es sich um "ein leidenschaftliches Liebesverhältnis, über dessen aktiv-erotischen Charakter kein Zweifel bestehen kann"7. Auch die Formulierungen, die Fillunger für den Beginn ihrer Beziehung wählte, sprechen eine klare Sprache: "Mein süßes Genchen, was sie mir Alle für alberne Fragen stellen, und zwar hauptsächlich über Dich, jeder kommt sofort durch meine Aeusserungen auf Dich und bemüht sich nun um ein Bild von Dir, ich laße sie rathen und suchen, ich bin froh daß Niemand weiß daß ich Rumpelstilzchen heiß (…) Erinnerst Du dich wie ich die ersten Tage unserer Zusammenseins (sic) schüchtern um Deine Liebe warb, ich weiß genau daß ich das erste Mal wagte Dir mit der Hand über die linke Schläfe und Wange zu fahren, und die nahmenlose Freude die ich empfand als Du Dich dieser Liebkosung nicht entzogst, seither hab ich mich an Deinen Küssen satt und durstig getrunken und dieser Durst brennt mir nun in tiefster Seele, der Brand wird nicht erlöschen bis Deine Lippen mich berühren und wird bei all den elementaren Störungen des mir nun zunächst bevorstehenden bewegten Lebens durchbrechen."8

Ende 1888 kam es zum Eklat zwischen Marie Schumann und Marie Fillunger. Die Frage, ob die lesbische Beziehung zwischen Eugenie und "Fillu" einen Grund für das Zerwürfnis darstellte, beantwortet indirekt ein Zitat aus einem Brief, den Clara Schumann an eine Freundin schrieb: "Eugenie verlangte, daß wir sie [Marie Fillunger] wie ein zu uns gehöriges Glied betrachten sollten, und das ging nicht, geht wohl überhaupt nie mit einer Fremden, am allerwenigsten, wenn sie einem so unsympathisch ist."9 Die Konsequenz des Streits war jedenfalls: Marie Fillunger verließ Frankfurt und ging im Januar 1889 nach London. Die Verbindung zwischen Eugenie und ihr war jedoch damit keineswegs gekappt: An die Stelle täglicher Begegnungen mit der Geliebten trat erneut ein reger Briefwechsel.

Tochter berühmter Eltern: Die Musikpädagogin Eugenie Schumann

Eugenie Schumann wurde 1851 in Düsseldorf geboren und war das siebte von acht Kindern des Komponisten Robert Schumann (1810-1856) und der Pianistin und Musikpädagogin Clara Wieck. Sie wuchs erst bei ihrer Mutter, dann in zwei unterschiedlichen Mädchenpensionaten auf. Auch sie erhielt früh musikalischen Unterricht. Sie wurde von ihrer Mutter, Johannes Brahms und ab 1869 von dem Komponisten und Musikpädagogen Ernst Rudorff (1840-1916) an der Königlichen Musikschule in Berlin am Klavier unterrichtet; Gesang lernte sie bei Julius Stockhausen (1826-1906). Bald konnte sie ihrer Mutter und ihrer Schwester Marie beim Unterrichten helfen.10

In Berlin lernte Eugenie Marie Fillunger kennen: "Wir kamen uns schnell näher, und sie wurde mir eine lebenslang geliebte Freundin".11 Eugenie Schumann beschreibt Marie Fillunger, die sie "Fillu" nennt, mit folgenden Worten: "Fillu war klein, hatte braune Haare, ein paar kluge, gute braune Augen, etwas schmerzlich trotzige Lippen, winzig kleine Hände und Füße, sprach im tiefsten Alt, sang aber den herrlichsten Sopran, den ich je gehört."12 Clara Schumann wurde 1878 als erste Klavierlehrerin ans neu gegründete Hoch'sche Konservatorium in Frankfurt berufen. So zogen die Schumanns an den Main, wo Eugenie und Marie bis 1891 Assistenz-Lehrerinnen ihrer Mutter wurden.13


London: Start neuer Karrieren

In London begann Marie Fillunger eine zweite sehr erfolgreiche Karriere. Besonders als Interpretin der Lieder von Franz Schubert (1797-1828) und Brahms genoss sie hohes Ansehen. Sie bereiste England und sang auch in Schottland sowie anderen europäischen Städten.14 Allein 1891 war sie auf 71 Konzerten.15 Im regen Briefwechsel mit Eugenie Schumann finden sich, neben beruflichen und intimen Äußerungen auch einige antisemitische.16 &Möglicherweise folgte Marie Fillunger damit unreflektiert reaktionären Ideen. Ihre antisemitischen Diffamierungen in der privaten Briefkommunikation verwundern, denn viele ihrer Freundinnen und Freunde waren jüdischer Herkunft. Die Haltung, die in den schriftlichen Äußerungen zu Tage tritt, wirft auch die Frage auf, wie sie sich in der Alltagskommunikation übersetzten und was dies für die Betroffenen bedeutete.17

Im Sommer 1891 folgte Marie Fillunger der Einladung des Pianisten Charles Hallé (1819-1895) und seiner Frau, der Violinistin Wilhelmine Norman-Neruda (1839-1911), zu einer mehrmonatigen Konzerttournee in Australien; 1895 reiste die gleiche Gruppe zu einer Tournee durch Südafrika. Dazwischen fand Fillunger aber auch immer wieder Zeit für Briefe an ihre Partnerin. Eugenie Schumann, die sich in Frankfurt noch krank gefühlt hatte, ging es sofort besser, nachdem sie 1892 zu Marie Fillunger nach London gezogen war…
In London begann auch für Schumann ein neues Leben: Unabhängig von ihrer Mutter hatte sie nun eigene Erfolge als Klavierlehrerin. Marie Fillunger war neben ihren Auftritten ebenfalls als Musikpädagogin tätig: Von 1904 bis 1912 gab sie am Royal College of Music in Manchester Gesangsunterricht. 1912 beendete Fillunger ihre berufliche Laufbahn und 1914 siedelte das Paar - möglicherweise wegen des bevorstehenden Krieges – von England in die Schweiz über: Zusammen wohnten sie in Matten bei Interlaken, wo Marie Fillunger am 23. Dezember 1930 im Alter von 80 Jahren starb und in Wilderswil bei Interlaken im Grab von Marie Schumann beerdigt wurde.


Eugenie Schumanns Lebensabend

Eugenie Schumann veröffentlichte 1925 ein persönliches Buch über ihre Familie, das sie "Erinnerungen" nannte. 1931 gab sie ein ebenso viel beachtetes Buch über ihren Vater heraus: "Robert Schumann: Ein Lebensbild meines Vaters". Nach der Machtübergabe an Adolf Hitler (1889-1945) und die NSDAP unterzeichnete Schumann ihre Briefe bald mit "Heil Hitler" und zeigte sich offen für deutsch-nationale Töne. Als der Stuttgarter Engelhorn-Verlag die "Erinnerungen" 1936 in einer Neuauflage herausbringen wollte, in der alle jüdischen Namen und alle mit ihnen in Verbindung stehenden Passagen weggelassen werden sollten, sprach Schumann sich dagegen aus. Sie konnte die Publikation nicht mehr verhindern, denn sie erschien erst posthum 1942. Ihr Versuch der antisemitischen Tilgung jüdischer Namen und damit von Biografien von Menschen und Lebensleistungen etwas entgegenzusetzen, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Schumann - selbst in der Schweiz lebend - weitere nationalsozialistische Bekanntschaften pflegte. In deren Kampfansagen stimmte sie nicht selten mit ein. Ob sie sich beispielsweise jemals für jüdische Freund*innen in Deutschland eingesetzt hat, ist unklar. Der Bitte, eine schützende Empfehlung für die Familie Wittgenstein zu schreiben, die Hermine Wittgenstein (1874-1950), Schwester des Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889-1951), 1937 an sie gerichtet hatte, ist Eugenie Schumann jedenfalls wohl nicht nachgekommen.18 Die Aufführung des Violinkonzerts ihres Vaters, das wegen seiner Qualität umstritten war, hatte sie trotz verschiedener Eingaben nicht verhindern können.19 Die 86-Jährige weigerte sich aber, immer noch von der Schweiz aus, die Einladung von Joseph Goebbels (1897-1945), dem Präsidenten der Reichskulturkammer, anzunehmen. Es ging ihr vorrangig darum, den Willen der verstorbenen Mutter durchzusetzen, die die Aufführung dieses Konzerts grundsätzlich untersagte; gleichzeitig jedoch kritisierte sie aufgebend, dass sie "machtlos" sei und "Menschen am Gängelband der Progaganda marschieren (…), jede individuelle Meinung unterdrückt, die Urteilskraft des Einzelnen nicht entwickelt wird".20

Eugenie Schumann starb am 25. September 1938. An der Trauerfeier nahmen neben Goebbels zahlreiche weitere Nazis teil. Ihre Urne wurde schließlich im Grab in Wilderswil zwischen ihrer Schwester Marie Schumann und Marie Fillunger beigesetzt.21 Offenbar hat Eugenie Schumann dem Robert-Schumann-Museum in Zwickau den handschriftlichen Nachlass ihrer Eltern vermacht.22 Aber was geschah mit all den Briefen an Marie "Fillu" Fillunger? Sie sind nicht überliefert; vermutlich hat sie selbst sie vernichtet.



Ingeborg Boxhammer (Bonn, August 2021)

Zitiervorschlag:
Boxhammer, Ingeborg: "… der Brand wird nicht erlöschen bis Deine Lippen mich berühren" – Marie Fillunger (1850-1930) und Eugenie Schumann (1851-1938), Bonn 2021. Available from: Online-Projekt Lesbengeschichte. Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane. URL https://www.lesbengeschichte.org/bio_fillunger_d.html [cited DATE]




1 Marie Fillunger an Eugenie Schumann, 11.7.1875 Wien, zitiert nach Eva Rieger (Hg.): Mit 1000 Küssen Deine Fillu. Briefe der Sängerin Marie Fillunger an Eugenie Schumann 1875-93. Unter Mitarbeit von Rosemary Hilmar, Köln 2002, 979/3-5, S. 46f.


2 Rieger, 1000 Küsse, 2002.


3 Rieger, 1000 Küsse, 2002, S. 25.


4 Die englische Komponistin schrieb 1910 den "Frauenmarsch", der zur Hymne der englischen Frauenbewegung wurde. Ethel Smyth soll außerdem mit der gemeinsamen Freundin Elisabeth ("Lisl") von Herzogenberg (1847-1892) trotz deren Ehe mit dem Komponisten Heinrich von Herzogenberg (1843-1900) ein Liebesverhältnis unterhalten haben. Siehe zu Smyth bpsw. Christiane Leidinger: Noten, Damen, Anekdoten. Vor 50 Jahren starb die britische Komponistin Ethel Smyth, in: Unterschiede, Oktober 1994, Heft 14/15, S. 68-74.


5 Vgl. Rieger, 1000 Küsse, 2002, S. 33.


6 Adressbuch von Frankfurt a. M. mit Bockenheim, Bornheim, Oberrad und Niederrad, 1880-1889.


7 Nachwort von Eva Weissweiler, in: Eugenie Schumann: Claras Kinder. Gedichte von Felix Schumann. [Neuauflage der "Erinnerungen" von Eugenie Schumann, 1925]. Hg. und Nachwort von Eva Weissweiler. Köln 1995, S. 278-365, hier 357.


8 Marie Fillunger an Eugenie Schumann, 11.7.1875 Wien, zitiert nach Rieger, 1000 Küsse, 2002, 979/3-5, S. 46f.


9 Eva Rieger: "Ich habe oft namenlose Sehnsucht nach Dir besonders beim Singen…", in: Kathrin Heinz; Barbara Thiessen (Hg.): Feministische Forschung – Nachhaltige Einsprüche (= Studien interdisziplinäre Geschlechterforschung 3), Wiesbaden 2003, S. 258-276, hier 262. – Da der Streit erst nach etwa fünf Jahren eskalierte, könnte dies bedeuten, dass Marie und Clara Schumann die Beziehung zunächst nicht ernst genommen hatten. Später gab es zwischen diesen Familienmitgliedern und Marie Fillunger weiterhin (Brief-)Kontakt.


10 Vgl. Eva Rieger: "Desire Is Consuming Me": The Life Partnership between Eugenie Schumann and Marie Fillunger, in: Queer episodes in Music and Modern Identity, ed. by Sophie Fuller and Lloyd Whitesell, Urbana and Chicago 2002, S. 25-48, hier 27.


11 Schumann, Claras Kinder, S. 213.


12 Schumann, Claras Kinder, S. 214.


13 Vgl. Vierzehnter Jahresbericht des Dr. Hoch'schen Conservatoriums für alle Zweige der Tonkunst zu Frankfurt am Main. Ausgegeben am Schlusses des Schuljahres 1891/92, Frankfurt/Main 1892, S. 32.


14 Vgl. Rieger, 1000 Küsse, 2002, S. 33.


15 Vgl. Rieger, Desire, 2002, S. 34. – Siehe zu Fillungers Liedrepertoire die Liste bei Rieger, 1000 Küsse, 2002, S. 356-358.


16 Siehe dazu Rieger, 1000 Küsse, 2002, S. 179.


17 Fillungers Haltung ist noch nicht ausreichend erforscht.


18 Vgl. Weissweiler, Nachwort, S. 360f.


19 Vgl. Eva Rieger: Eugenie Schumann, auf: https://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/eugenie-schumann/, Abruf 21.8.2021.


20 Vgl. Weissweiler, Nachwort, S. 361f.; 363f. Genaueres zur Haltung von Eugenie Schumann zum Nationalsozialismus muss erst noch erforscht werden.


21 Vgl. Weissweiler, Nachwort, bes. 352-365.


22 Vgl. Salzburger Volksblatt, 8.2.1939, S. 6.