Vortrag während der Jahrestagung des Fachverbands Homosexualität und Geschichte e.V.
25. bis 27.09.2015 in Berlin.
Dokumentation des Vortrags von Christiane Leidinger (Berlin) am 26.9.2015. Zur Zitation der Vortragsdokumentation bittet die Autorin um Rücksprache.
Kontakt: info(at)lesbengeschichte.org
Eine erweiterte und umgearbeitete Fassung des Vortrags erscheint im Frühjahr 2016 als Aufsatz:
Leidinger, Christiane: Zur Politik der Platzbenennung – Überlegungen für eine Geschichtspolitik und historische Erinnerungskultur als gegenhegemoniale Wissensbildung entlang von Intersektionalität(-sbewusstsein), Empowerment und Powersharing.
In: Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten, 17. Jahrgang 2015. Hamburg: Männerschwarm 2016 (erscheint April/Mai 2016).
Aurich, Berlin, Bremen, Frankfurt, Hannover, München und Stuttgart haben eines gemeinsam: eine Straße oder einen Platz, der nach Karl Heinrich Ulrichs benannt worden ist. In Lehnitz bei Oranienburg befindet sich schon seit der Nachkriegszeit eine Magnus-Hirschfeld-Straße; in Berlin gibt es das nach ihm benannte Ufer und in diesem Frühjahr wurde in Magdeburg ein Weg nach Hirschfeld benannt. Diese Benennungen sind ein kleiner Ausschnitt aus der Erfolgsgeschichte schwuler Erinnerungskultur in der Bundesrepublik.
Ich freue mich sehr, dass der Fachverband das Thema Erinnerungskultur aufgegriffen hat. Denn mein Vortrag "zur Politik der Platzbenennung" hat eine Vorgeschichte. Er nimmt Bezug auf meine Forderung nach einer gemeinsamen Diskussion über kritisch reflektierte Erinnerungskultur zu LGBTIQ, speziell was den Umgang mit "zwiespältigen Biografien" betrifft. Diesen Appell setzte ich ans Ende eines Vortrags im Berliner Koordinierungsgremium zur Geschichtsforschung im Rahmen der Initiative des Senats "Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt" im April dieses Jahres.
Diese Diskussion kann heute weiter geführt werden und darüber freue ich mich politisch sehr. Anlass für die Vorträge und damit meine Überlegungen war meine Mitarbeit an der Broschüre "Persönlichkeiten in Berlin 1825-2006. Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen", die das Schwule Museum(*) im Auftrag der Landesantidiskriminierungsstelle des Berliner Senats im Jahr 2010 erstellt hat und die in diesem Frühjahr erschienen ist. Darin haben Jens Dobler, Andreas Pretzel und ich Personen vorgeschlagen, nach denen öffentliche Orte in Berlin benannt werden könnten.
Mir geht es heute nicht darum, diese Vorschläge zu erläutern, das bitte ich bei Interesse einfach nachzulesen. Ich möchte stattdessen in verschiedener Hinsicht Benennungspraxen von Erinnerungskultur reflektieren, dazu auch Lesben*-Beispiele aus der Broschüre vorstellen und Alternativen vorschlagen.
Erinnerungskultur und individualisiertes Gedenken
Der Prozess von Platzbenennungen gehört zur Erinnerungskultur – ein Begriff, der unterschiedlich definiert wird. In einem engen Verständnis wird Erinnerungskultur als Sammelbegriff "für die Gesamtheit des nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte in der Öffentlichkeit" verwendet, und zwar als Geschichtsgebrauch "mit den verschiedensten Mitteln und für die verschiedensten Zwecke".
Zur Erinnerungskultur gehören u.a. unterschiedliche Formen der "Geschichte im Asphalt", also Denkmäler, Gedenktafeln oder Fußwegplatten, Stolpersteine, Gedenkstelen und Verkehrswege-, Brücken-, Platzbenennungen genauso wie die Betitelung von Bildungseinrichtungen, Bibliotheken, Grünanlagen oder Hundeauslaufplätze. Bis auf Ausnahmen werden für diese Auszeichnungen Namen von Personen genutzt, um diese – wie es heißt - im öffentlichem Raum zu ehren. Genau an diesem Punkt möchte ich kritisch ansetzen: an der Idee und Praxis, Personennamen zu verwenden.
Hierzu möchte ich eine erste Überlegung konturieren, die für mein Verständnis von Geschichtspolitik und für meine Kritik an bisheriger Erinnerungskultur grundlegend ist.
Die personalisierte Benennung von Straßen, Plätzen und öffentlichen Einrichtungen ist eine individualisierte Variante von Erinnerungskultur. Und diese Benennungen sind sehr gut im Stadtbild präsent – nicht nur in der Bundesrepublik.
Individualisiertes Erinnern, also Gedenken an Einzelpersonen, deren Leben und Werk, insbesondere wenn diese im Kontext von emanzipatorischen sozialen Bewegungen und Organisierungen verortet sind, ist jedoch wissenschaftlich und politisch ambivalent: Denn die politische Kraft von sozialen Bewegungen lebt von der Dialektik kollektiver und individueller Befreiung. Die Isolierung von Einzelnen aus der Bewegung – hier insbesondere der Frauen- und Homosexuellen- sowie der Sexualreformbewegung - untergräbt diesen spezifischen Aspekt. Individualisierenden Gedenkformen ist das Herausheben einerseits und das Vernachlässigen andererseits inhärent. Aber alleine ist nun mal keine soziale Bewegung zu machen.
Die Alternativen liegen auf der Hand:
Platzbenennungen könnten sich auf kollektiv relevante Ereignisse, bedeutsame Begriffe oder Organisierung beziehen. Es handelt sich um eine marginale, aber bereits realisierte Praxis, gleichwohl nicht mit LGBTIQ-Bezug.
Also, wie wäre es mit einem "Platz des Coming Outs" in Berlin oder anderswo? Einer "Allee der frühen Homosexuellenemanzipation", einer "Straße der Lesbenbewegung"? Einer "Straße der Abschaffung des § 175 StGB"? Und mit einem Verkehrsweg mit der Bezeichnung "Zur geschlechtlichen Selbstbestimmung" oder mit einem "Platz gegen Heterosexismus und Homophobie", einer "Brücke gegen Rassismus" und einem "Weg des Respekts für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans* und Inter*"?
Wahrnehmungsfilter Publikationstätigkeit, gender, class und weiße Geschichtsschreibung
Unabhängig von diesen Alternativen zu Personennamen ist es wichtig, noch einen anderen Aspekt zu reflektieren, der den individualisiert verengten Blick auf soziale Bewegungen im Rahmen von Erinnerungskultur verstärkt:
Da in der Regel kein Interviewmaterial und auch kaum einschlägige Ego-Dokumente von Protagonist*innen aus der frühen Homosexuellenbewegung vorliegen, wird die Auswahl derer, an die ‚wir' erinnern wollen, in der Regel an staatlicher Politikbeteiligung oder Publikationen festgemacht. Es sind aber vergleichsweise nur wenige Personen, die in oder für eine Bewegung Schriften verfassten. Durch den Wahrnehmungsfilter "Publikationstätigkeit" geraten grundsätzlich Frauen (jenseits der Frauenbewegung) ins Hintertreffen. Das hat mit der geschlechterpolitischen Großwetterlage zu tun: Ich nenne exemplarisch nur vier Stichworte: Sexualitätstabu, außerdem das Studienverbot und das Politikverbot für Frauen bis 1908 sowie das Wahlrechtsverbot für Frauen bis 1918. Die durch Sexismus bedingte kürzere Tradition von Frauen für publizistische wie politische Betätigung wird demnach mit einem erinnerungskulturellem Blick reproduziert, der sich vornehmlich auf Publikationen stützt, auch wenn das vielleicht gar nicht beabsichtigt ist. Darüber hinaus greift bzw. verstärkt sich bei personenbezogenem Gedenken zumeist ein weiterer, nämlich klassistischer Ausschlussmechanismus:
Es sind gesellschaftlich bedingt – wiederum exemplarisch genannt: Bildungszugang und andere Ressourcen wie Zeitkapazität – vergleichsweise selten Personen aus der Working Class oder Poverty Class, die schreibend hervortreten konnten. Entsprechend selten wird konkret ihrer gedacht. Das akademische Diktum "publish or perish" hat offenkundig auch eine erinnerungskulturelle Komponente.
Personenbezogene Erinnerungskultur in der Bundesrepublik ist nicht nur gegendert und klassisiert, sondern auch rassisiert. Deutsche Geschichtsaufarbeitung ist weiß geprägt, (post-)kolonial durchdrungen, und es werden zumeist nur weiße Personen erinnert.
Diesen politischen Tendenzen von Erinnerungskultur sollte gezielt mit der aktiven Suche nach alternativen Personennamen entgegen gesteuert werden.
Trotz dieser Kritik an individualisierten Gedenkformen – und zwar jenseits von Erinnerungen an Opfer des Faschismus sowie von Genoziden, die dazu dienen, Opfern überhaupt wieder Namen und damit ihre Individualität zu geben – zeigen sich mindestens zwei zentrale und miteinander zusammenhängende Gründe für solche individualisierten Formen von Gedenken. Erstens: Solange die dominante Form des öffentlichen Erinnerns von Personennamen geprägt ist, bedarf es selbstverständlich auch der Namen von Lesben*, Schwulen, Trans*, Inter* und Bisexuellen und Diskussionen darüber, an welche erinnert werden soll und warum bzw. warum nicht.
Und zweitens: Trotz der angeführten Probleme der mehrfachen Verengung durch individualisierte Geschichtsbetrachtung und Erinnerungskultur bleibt das Einschreiben der Namen von Personen in die Geschichte, die gesellschaftlich marginalisierten sozialen Gruppen angehörten, bedeutsam. Dies gilt – mit Blick auf den Bevölkerungsanteil – in besonderem Maße für Frauen.
Denn ein zentraler Aspekt zur Bedeutsamkeit individualisierter Form von Gedenken aus einer lesbisch-feministischen wie queer-feministischen Perspektive, lautet: Es gilt, die Sichtbarkeit von Frauen* zu gewährleisten, präziser: diese herzustellen, und zwar gerade auch die Sichtbarkeit von lesbischen Frauen und Trans* in Geschichtsbetrachtung und Erinnerungskultur. Frauen wurden aus dem Mainstream der Historiographie im Zuge der Dominanz der Personen- und Staatengeschichte systematisch herausgeschrieben. Die Folgen versuchen historisch Forschende, zumeist Wissenschaftlerinnen*(,) bis heute auszubügeln.
In der Erinnerungskultur ist die Androzentrik oder umgekehrt sind die Auslassungen besonders offenkundig. Für lesbische Frauen und Trans* gilt die Ausblendung aus der Geschichtsschreibung im besonderen Maße, und sie wird ergänzt durch eigentümliche Beweispflichten, die bezüglich der Homosexualität von Protagonist*innen an Forschende (implizit oder explizit) herangetragen werden.
Ausdrückliche Verweise auf die existierende Historie der sozialen Gruppe "Lesben" oder – in den Worten von Judith M. Bennett (2000) – lesbian-like lebenden Frauen und die Versuche, an diese im öffentlichen Raum zu erinnern, waren schon immer wichtig, um nicht die Enthistorisierung lesbischer Existenz fortzuschreiben. Ähnliches gilt für die Geschichte von Trans* bzw. Inter*.
Dabei muss betont werden, dass eine hermetische Trennung in Lesben hier und Trans* oder Inter* dort weder aktuell noch historisch erkenntnisförderlich ist. Denn es gibt beispielsweise Trans*, die sich als lesbische Trans*(,) und Inter, die sich als trans* identifizieren.
Nicht klar ist das Selbstverständnis beispielsweise bei der Frauen-Subkultur-Aktivistin* Lotte Hahm, die 1929 die Transvestitenvereinigung D'Eon mit gründete und sich zudem 1930 für einen Bund für ideale Frauenfreundschaft stark machte. In der Geschichtsschreibung für Deutschland stehen wir, was die Erforschung von Verwobenheiten komplexer Geschlechteridentifikationen und Sexualität betrifft, noch ganz am Anfang.
Vorschlag für Auswahlkriterien von Personen
Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass individualisierendes Gedenken gleichzeitig mit Herausheben und Vernachlässigen einhergeht. Für den Auswahlprozess der 19 von mir genannten Personen für die Senatsbroschüre hatte ich mir im Jahr 2010 Kriterien überlegt, die ich hier zur Diskussion stellen möchte. Die sieben Kriterien lauten:
1. bereits vorhandenes Wissen über die Person, also der Forschungsstand, 2. etwaiger Berlin-Bezug, 3. soziale Position der Person, also u.a. deren Ressourcen, 4. Position und persönliche Situation im Nationalsozialismus (Täterin*, Verfolgte oder beides), 5. konkretes politisches Handeln der Person: gemeint sind homosexuellen-emanzipatorische und andere politische Aktivitäten und 6. deren politische Bedeutung. 7. Verschiedene Bewertungen wie: eingegangene Kosten bzw. Risiken, außerdem Innovationskraft, Kreativitätspotential und auch der persönliche Mut der jeweiligen Person.
Lesbenforscherische Tradition der Diskussion um kritische Erinnerungskultur: "zwiespältige Ahninnen" (Ulrike Janz)
Bevor ich auf drei Beispiele eingehe, will ich darauf hinweisen, dass die Auseinandersetzung mit politischer Janusköpfigkeit in historischen Biografien, und zwar explizit von lesbisch lebenden Frauen in der Geschichte, in der Lesbenforschung und queer-feministischen Wissenschaft eine lange Tradition aufweist und die Wurzeln dieser Diskussion freilegen. Die Problematisierung ist nämlich inzwischen 25 Jahre alt; aufgearbeitet ist sie noch nicht. Angestoßen und maßgeblich betrieben wurde die Auseinandersetzung von Ulrike Janz, Psychologin und Mitherausgeberin der 2004 eingestellten Publikation IHRSINN - eine radikalfeministische Lesbenzeitschrift.
Die Debatte startete nicht, wie vielleicht manche hier annehmen, innerhalb universitärer Forschung, sondern war in der Lesbenbewegung verortet und findet sich an den – selbstgeschaffenen – Schnittstellen von Wissensbildung und Bewegung: Stichworte Politische Bildungsarbeit in bzw. in Kooperation mit Frauen- und Lesbenprojekten sowie bundesweite Lesbenfrühlingstreffen (LFT), Berliner Lesbenwochen und außeruniversitäre Lesbenforschungssymposien.
1991 erschien in der Zeitschrift IHRSINN mit dem Schwerpunkt "Das verlorene Wir?" der Text von Ulrike Janz mit dem Titel "(K)eine von uns? Vom schwierigen Umgang mit ‚zwiespältigen Ahninnen'". Bereits 1990 hatte sie auf der bundesweit relevanten Berliner Lesbenwoche das Thema erstmals aufgegriffen. Janz diskutiert Fragen von Historiografie und Geschichtspolitik auf einer erkenntnistheoretischen Ebene und erläutert dies an verschiedenen Beispielen, u.a. anhand der Biografien von Charlotte Wolff (1887-1986) und Käthe Schirmacher (1865-1930). 1994 legt Ulrike Janz in derselben Zeitschrift einen Beitrag nach, in dem sie sich u.a. mit lesbischen SS-Täterinnen beschäftigt.
Im Zentrum ihrer Ausführungen steht die Bedeutung einer umfassenden Geschichtsaneignung – also ohne Auslassung politisch heikler oder missliebiger Inhalte. Sie nennt dies in Anlehnung an den Schriftsteller und NS-Widerstandskämpfer Jean Améry und die Soziologin Lerke Gravenhorst die Aneignung von positivem und von negativem Eigentum in der Geschichte frauenliebender Frauen. Seit 1990 hat Janz zahlreiche Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen zum Thema initiiert und durchgeführt. Zuletzt verwies sie auf diese Idee in einem Text aus dem Jahr 2014. In meinen eigenen Forschungsarbeiten zur historischen Biographik, Erinnerungskultur sowie in der Politischen Bildung, einschließlich dem Portal Lesbengeschichte.org – mit Ingeborg Boxhammer zusammen – habe ich mich stets auf ihre Überlegungen bezogen.
Meines Wissens gibt es in der bundesdeutschen Schwulenbewegung keine – ich betone – äquivalente Auseinandersetzung, die sich grundsätzlich mit problematischen Aspekten in Biographien von Schwulen beschäftigt hätte.
Kritische Stimmen aus der Schwulenforschung
Als zentrale Ausnahme ist hervorzuheben: die personenbezogene und inzwischen verebbte Debatte zu Magnus Hirschfeld (1868-1935) speziell mit Blick auf seine "eugenisch"/"rassenhygienischen" Positionen, wie sie sich insbesondere im Streit – mit dem Neuen whk und dem Berliner Institut für Faschismus-Forschung und Antifaschistische Aktion e.V. – um ein Hirschfeld-Denkmal im Jahr 2000 zeigte, und in deren Kielwasser Andreas Seeck 2003 eine verdienstvolle Anthologie herausgab. Darin befindet sich auch der Artikel aus dem Spiegel, in dem Volkmar Sigusch bereits 1985 eine kritische Auseinandersetzung in der Hirschfeld-Renaissance anmahnte und sich "gegen jede Beschönigung" positionierte.
2008 setzte Andreas Pretzel einen kritischen Akzent in einem Vortrag: Auf der Jahrestagung des Fachverbands (Homosexualität und Geschichte) thematisierte er mit Blick auf seine Auswertung von Berliner Strafakten die Vorstellung eines stets ‚guten Opfers', nämlich bezogen auf Pädosexuelle im Nationalsozialismus.
Einen neuen Impuls, der jedoch meines Wissens noch nicht aufgegriffen worden ist, setzte ein Text von Manuela Bauer und Hannes Sulzenbacher in invertito zu den bisherigen Lebensbeschreibungen über den österreichischen Schriftsteller Erich Lifka (1924-2007). Die beiden fragen sich in ihrem Beitrag bezogen auf den Nationalsozialismus, ob die "schwule Geschichtsschreibung unwissenschaftlichen Heroisierungstendenzen" nachgebe. Soweit zur unaufgearbeiteten Geschichte der Auseinandersetzungen mit zwiespältigen Aspekten in homosexuellen bzw. homosexuellen-emanzipatorischen Lebensläufen.
Problematische biografische Beispiele aus der Lesbengeschichte um 1900:
Emma Trosse, Johanna Elberskirchen und Theo(dora) Sprüngli/"Anna Rüling"
Nun zu den angekündigten drei – auch in der Broschüre angeführten – Beispielen: Es handelt sich um eine Würdigung von Leben und Werk von Johanna Elberskirchen (1864-1943), Theo(dora) Anna Sprüngli (1880-1853), besser bekannt unter ihrem Pseudonym "Anna Rüling", sowie von Emma Trosse, später verheiratete Külz (1863-1949). Die drei Lebenswege habe ich selbst erforscht, gleichwohl unterschiedlich intensiv.
Vorab: Elberskirchen, Sprüngli und Trosse sind nicht drei x-beliebige Frauen*, die für Homosexualitätsgeschichte bedeutsam waren. Vielmehr handelt es sich um die drei – und zwar weltweit – ersten bekannten Vorkämpferinnen für homosexuelle Emanzipation, die publizistisch agierten und von denen wir bislang überhaupt wissen.
Ob sich die drei Vorkämpferinnen kannten, ist unklar. Wahrscheinlich hätten sie nicht viel miteinander anfangen können – weder politisch, noch persönlich: Elberskirchen war eine Linke, sie war unerschrockene und provokative Publizistin, Trosse bedächtige und strategische Autorin, Sprüngli die ruhige, kunstliebende Kulturschaffende – die beiden Letztgenannten, also Trosse und Sprüngli, politisch konservativ. Bei aller Unterschiedlichkeit eint die drei zentral, dass sie einen frauenemanzipierten Weg gegangen sind (ich sage bewusst hier nicht feministisch), und dieser frauen-emanzipierte Weg ermöglichte es ihnen überhaupt erst, auch homosexuellen-emanzipatorisch aktiv werden zu können. Des Weiteren ist ihnen gemeinsam, politisch zwiespältig zu sein. Diese Zwiespältigkeit bezieht sich entweder auf die Werke zu Homosexualität und/oder auf andere Schriften der Autorinnen sowie auf deren politisches Engagement. Die Stichworte hierzu lauten: Monarchismus, Klassismus/Kapitalismus, "Eugenik/"Rassenhygiene", Nationalismus, Militarismus und Kolonialismus.
In Emma Trosses Werk gibt es staatstheoretisch lesbare Passagen, die sie während des Kaiserreichs als Konservative, als Reaktionäre und Anti-Demokratin ausweisen. Von sozialer Gerechtigkeit sowie von politischer Freiheit und von Gleichheit aller Menschen hielt sie wenig; die Kämpfe der Arbeiterbewegung gegen Ausbeutung fegte sie sätzeweise vom Tisch.
An Johanna Elberskirchens sexualwissenschaftlichen und sexualreformerischen Texten zu Hetero- und zu Homosexualität zeigen sich deutlich die Bruchstellen und Widersprüche auch ihres emanzipatorischen politischen Lebens. Seit der Jahrhundertwende griff sie bis zur Weimarer Republik populäre "eugenische"/"rassenhygienische" Argumente auf und trug selbst zu deren Weiterverbreitung bei. Das heißt, sie teilte die Idee, es sei notwendig ‚hochwertige' Kinder hervorzubringen und das Erbgut zu verbessern. Dieses Ziel fokussierte sie insbesondere auf die vom Patriarchat zugerichteten Frauen bzw. Mädchen. Für Zwangsmaßnahmen sprach sie sich nicht aus.
Im Zentrum ihrer Überlegungen, die stark sozialisationsorientiert sind, stand stattdessen eine Art geistiges Erziehungsprogramm, das der Vervollkommnung dienen sollte und auf die Veränderung erworbener vererbter Eigenschaften zielte. Zum Vergleich: Magnus Hirschfeld befürwortete Zwangssterilisation und Zwangskastration.
"Eugenik" und "Rassenhygiene" im engen Sinne antisemitischer oder rassistischer Inhalte vertrat Elberskirchen nicht. Dennoch sucht man eine klare Stellungnahme dazu bzw. dagegen in ihrem Werk vergeblich. Ein paar Jahre finden sich zudem nationalistisch und patriotisch gefärbte Auffassungen im Kontext sozialer Wohlfahrt – auch hier entschied Johanna Elberskirchen sich für eine typische Sichtweise in der deutschen Vorkriegszeit im Kaiserreich und nicht gegen sie.
Theo(dora) Anna Sprüngli, besser bekannt unter ihrem Pseudonym Anna Rüling, ging am weitesten, da sie sich auch aktiv politisch für ihre problematischen Ziele einsetzte: Sie war mindestens zwei Jahre in zwei ausgewiesen rechten, nationalistischen, militaristischen und kolonialistischen Vereinigungen engagiert: im Reichsverband deutscher Hausfrauen und im Flottenbund Deutscher Frauen.
Nachweislich seit Beginn des Jahres 1914 arbeitete Sprüngli im Vorstand der Düsseldorfer Ortsgruppe des Flottenbundes und war ein Jahr danach Schriftführerin. Der "Flottenbund deutscher Frauen" war ein Zusammenschluss, der die Agitationsarbeit des "Deutschen Flottenvereins" von weiblicher Seite unterstützen sollte. Mit der Flotte waren nationalistische, militaristische und nicht zuletzt kolonialistische Ziele verbunden.
Die Frauen des Bundes vertraten eine "expansive [imperiale] Außenpolitik", wofür der Bau eines Kriegsschiffes Voraussetzung war, um weitere Kolonialansprüche geltend zu machen und für eine weltpolitische Machtentfaltung des Deutschen Reiches zu streiten. Dabei war Theo Anna Sprüngli nicht einfach eine unter vielen im Flottenbund deutscher Frauen Organisierten. 1915 erhielt sie – so einer meiner jüngst recherchierten Fakten – mit der "schwarz-weiß-rote[n] Nadel" die dritt-höchste Auszeichnung für "besondere Verdienste". Außerdem wurde sie im Herbst desselben Jahres auf Landesebene in die drei-köpfige "Kommission für Zeitungsangelegenheiten" des Flottenbundes berufen und ist demnach für das öffentliche Bild des Bundes mit verantwortlich.
Vor dem skizzierten Hintergrund habe ich mich im Jahr 2008 in einem Zeitungsinterview mit dem Delmenhorster Kreisblatt explizit gegen die Benennung eines Straßennamens nach Sprüngli ausgesprochen.
Eine gangbare Alternative wäre es, an Sprüngli – oder auch an andere Personen mit zwiespältigen Biografien – mit Gedenktafeln oder Gedenkstelen zu erinnern. Denn diese Formen von Erinnerungskultur bieten Platz für Ausführungen zu problematischen Aspekten. Das heißt: Durch die Wahl der Erinnerungsformen gibt es durchaus Möglichkeiten, mit biografischer Janusköpfigkeit angemessen umgehen zu können.
Das Zeitgeist-Argument und die Vorstellung des Abwägens
Soweit zu den drei bedeutsamen Vorkämpferinnen* und deren politisch heiklen Seiten.
Aus Erfahrung kenne ich die typischen Gegenstimmen:
Insbesondere bezogen auf das bevölkerungspolitische Problemfeld "Eugenik"/"Rassenhygiene" wird sehr oft argumentiert, man müsse gerade diese Überlegungen der Protagonist*innen gleichsam ‚versöhnlich' vor dem Hintergrund der damaligen zeitgeistigen Strömungen verstehen. Hinter solchen Zeitgeist-Verweisen steckt oft der Versuch einer – auch wissenschaftlichen – Einhegung gesellschaftlicher Konflikte. Hier wird Ungerechtigkeit und Unterdrückung in Gestalt von "Rassenhygiene" als letztlich normal konstruiert. Weitergehend kann der Zeitgeist-Bezug auch gleichsam der Legitimierung eigentlich kritikwürdiger Denkweisen und Verhältnisse dienen – oder zumindest so verstanden werden. Der Verweis auf einen allumfassenden "eugenischen"/"rassenhygienischen" Mainstream, der auch für andere Macht- und Herrschaftsformen geltend gemacht wird, vereinfacht jedenfalls unzulässig gesellschaftliche Verhältnisse. Denn mit diesem Zeitgeist-Verweis werden damals durchaus auch existierende andere kritische Positionen zu verschiedenen Herrschaftsverhältnissen ausgeblendet und damit stimmlos gemacht. Emanzipatorische Gegenreden, Versuche der Bildung von Gegenhegemonie, Protest und Widerstand - auch noch so schwachen - sichtbar zu machen, verweist dagegen auf die Risse in den vermeintlich glatten Mauern politischer Kultur. Gerade diese anderen Positionen zeigen auf, dass die dem jeweiligen Zeitgeist folgenden Argumentationen zwar verbreitet und typisch, aber damit eben auch damals noch lange nicht zwingend gewesen sind.
Die Herangehensweise, "Eugenik"/"Rassenhygiene" – als ein Beispiel – (vermeintlich) aus der Zeit heraus verstehen zu wollen, weist also mindestens eine deutliche Schwäche auf. Auch eine Haltung im Sinne des Zeitgeistes war – bei aller strukturellen Macht dieser Hegemonie – eine Frage persönlicher Überlegungen, von Entscheidungen und damit auch von politischer Verantwortung einzelner Individuen – oder auch Gruppen.
Eine ebensolche verantwortungsvolle – individuelle oder kollektive – Entscheidung ist es selbstredend, wichtiges homosexuellen-emanzipatorisches Engagement – ich spitze zu: durch erinnerungskulturelles Vergessen bzw. Verschweigen gleichzeitiger Macht- und Herrschaftspartizipation und Privilegierung durch Herrschaft, implizit oder explizit höher zu bewerten als die parallelen problematischen Aspekte. Es ist eine Entscheidung für hegemoniale Wissensproduktion bzw. -tradierung und Erinnerungskultur.
Jede Idee einer schematischen Aufrechnung in diesem Zusammenhang läuft Gefahr eine Hierarchisierung von Herrschaftsverhältnissen in wichtige, wichtigere bzw. nicht so wichtige Herrschaftsverhältnisse das Wort zu reden.
Das heißt, geht man die Frage von Erinnerungskultur so an, wird suggeriert, viel Positives (etwa Homo-Engagement) könne gegen mehr oder weniger viel Negatives (etwa Rassismus oder Sexismus) aufgewogen werden. Dies mag vielleicht noch als theoretische Überlegung funktionieren, sicherlich jedoch nicht in der Praxis. Wie soll das konkret aussehen?
Ich karikiere ein wenig: 500 unproblematische Seiten und Vorträge einer Person gegen 50 kritikable Sätze entscheiden dann über eine sogenannte Ehrungswürdigkeit für einem Straßennamen? Erst ab 100 Sätzen wird's kritisch? Oder: ab 150 Sätzen müssen problematische Aspekte erwähnt werden? Oder – je nach Problem – schon ab 25 Sätzen?
Hier zeigt sich jedenfalls erneut deutlich: Mit Platzbenennungen wird Politik gemacht. Straßennamen als "Medien des kollektiven Gedächtnisses" vermitteln Vergangenheit und "zeigen" dabei auch "die Art des Umgangs mit Erinnerung in einer Gesellschaft an".
Vor dem Hintergrund politisch-biografischer Zwiespältigkeiten - nicht nur der genannten drei Vorkämpferinnen - halte ich mit Ulrike Janz ein Verständnis von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur für wichtig, das Privilegien nicht ausblendet bzw. die durch die Personen gestützten Macht- und Herrschaftsverhältnisse über fraglos mutige und bedeutsame homosexuelle Emanzipation, demokratisches Engagement oder feurigen Feminismus gleichsam nicht vergisst bzw. peinlich berührt verschweigt.
Es gilt, sich beides, das positive Eigentum und auch negative Eigentum, anzueignen. Wir brauchen nicht nur ein "Gedächtnis der Konflikte", sondern auch eine konkrete Erinnerung an Konflikte – zumal ungelöster. Transparente Differenzen öffnen Geschichte für neue Bearbeitung.
Ulrike Janz macht sich stark für die Anerkennung und Überlieferung, dass Unterdrückte und Widerstehende gleichzeitig Unterdrückerinnen sein können; weiter geht es darum, zu fragen, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, wie beides sich gegenseitig bedingt. Hier kommen also intersektionale Fragestellungen ins Spiel.
Intersekationalitätsbewusstheit
Kurz zur Erläuterung für diejenigen, die diese anhaltend zentrale Debatte nicht kennen:
Der Begriff "Intersektionalität" bzw. "intersectionality" wurde 1989 von der afro-amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw mit dem Bild einer Straßenkreuzung in die Geschlechterforschungsdiskussion eingebracht. Die politische Grundidee ist älter und findet sich beispielsweise in Diskussionen der bundesdeutschen Neuen Frauenbewegung: etwa in der Kritik von Lesben in den 1970er Jahren an Heteras und in der Kritik Schwarzer FrauenLesben an weißen Feministinnen.
Intersektionales Denken geht von mehrdimensionalen gesellschaftlichen Positionen aus – zum Beispiel entlang von sozio-sexueller Identität und Geschlecht und Klasse und Ethnizität und ‚Be_hinderung'/chronische Erkrankung. Ziel von intersektionalen Ansätzen ist es, das "Zusammenwirken verschiedener Positionen sozialer Ungleichheit zu analysieren und zu veranschaulichen, dass (…) Formen der Unterdrückung und Benachteiligung nicht additiv aneinander [zu] reihen", "sondern in ihren Verschränkungen und Wechselwirkungen zu betrachten" sind. Wenn ich also für intersektionalitätsbewusste Erinnerungskultur plädiere, so meine ich beides: eine Reflektion multipler Ungleichheit und Unterdrückung sowie Reflektion ihrer Überschneidungen und gegenseitigen Beeinflussung. Beispielsweise homosexuellenpolitisches Engagement einer Person und deren Betroffenheit von Homosexuellenunterdrückung bei gleichzeitigem Sexismus bis hin zu Antifeminismus – um mal einen ‚Schwulenklassiker' um 1900 zu nennen – oder wie im Falle von Sprüngli Frauen- und Homosexuellenemanzipation, eigene Betroffenheit von Sexismus und von Homosexuellenunterdrückung bei gleichzeitiger aktiver Beteiligung an Kolonialismus und Militarismus.
Mit dieser kritischen Reflektion von Intersektionalität auch in der Emanzipationsgeschichte von Lesben, Schwulen, Bis, Trans* und Inter* ist die Frage verbunden, für wen ‚wir' Geschichte erinnern wollen, gleichsam wem sie ‚gehört', wer darüber bestimmt, was ‚wir' erinnern und was nicht. Ich plädiere für ein konsequent intersektionalitätsbewusstes Erinnern im Sinne des Einbezugs mehrdimensionaler Diskriminierung und Versuche der Reflektion ihrer etwaiger Besonderheiten durch Überschneidung. Dabei soll Erinnern eine empowernde Wirkung haben.
Empowernde Erinnerungskultur
Der Begriff "Empowerment" wurde in der Forschung zu sozialer Arbeit eingeführt. Treffend ins Deutsche übersetzen lässt er sich kaum. Denn "Ermächtigung" verweist gerade im Kontext von Geschichte geradezu zynisch auf das nationalsozialistische "Ermächtigungsgesetz".
Im Kern des Terminus "Empowerment" steckt jedenfalls der Begriff "power", also Kraft, Stärke, Macht. Empowern meint Machterweiterung, Ausweitung von Handlungsräumen unterdrückter sozialer Gruppen, und zwar auf der Grundlage von Selbstbestimmung und Selbstdefinition.
Konkret wurde der Begriff von der afro-amerikanischen Professorin für Soziale Arbeit, Barbara B. Solomon, 1976 mit ihrem Buch "Black Empowerment" eingeführt. Die Grundidee und Tradition ist sehr viel älter: Empowerment findet sich zentral - chronologisch rückwärts betrachtet – in den Lesben- und Schwulenbewegungen, den Frauenbewegungen, der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, fraglos auch in der Arbeiterbewegung um 1900 in Deutschland, Stichwort beispielsweise Arbeiterbildungsvereine.
Der Begriff hat inzwischen etwas Schillerndes und wird sehr unterschiedlich gefüllt.
Bezugnehmend auf die Sozialwissenschaftlerin Gabriele Dina Rosenstreich und auf den Soziologen Norbert Herriger seien die für meine Überlegungen zentralen Bedeutungsmomente genannt: Empowerment meint "mutmachende Prozesse" der "Selbstbefähigung", "Stärkung von Eigenmacht" und "Autonomie", sich aktiv Informationen beschaffen, "kritisches Denken" lernen, "Einsamkeit überwinden und die Bereitschaft, sich in solidarische Gemeinschaften einzubinden" sowie das "Einfordern der eigenen Rechte auf Teilhabe und Mitwirken und die stete Bereitschaft, offensiv gegen stille Muster der Entrechtung einzutreten".
Was hat das mit Geschichte zu tun?
Es geht darum, seine eigene Lebenssituation auf Geschichte beziehen können, ein Wissen um historische Kämpfe etwa zu Homosexellen-Emanzipation zu entwickeln, Kenntnisse über Erfolge wie über Niederlagen zu erlangen - einschließlich politischer Probleme und Widersprüche, dieses Wissen zur Geschichte kritisch zu reflektieren und für sich selbst zu nutzen.
"Mit dem Wissen über Kämpfe der Vergangenheit entsteht eine andere Wahrnehmung von Konflikten der Gegenwart - die eigenen Erfahrungen können auf einer anderen Ebene reflektiert werden" – um daraus Stärke zu gewinnen.
Es wäre noch zu untersuchen, ob und inwiefern die Organisierung von Homosexuellen um 1900 und in den 1920ern seitens der Aktiven selbst empowernd gedacht gewesen ist; die Neuen Lesben- und Schwulenbewegungen sowie schwul-lesbische Organisierungen haben diese Tradition fraglos – etwa durch Selbsthilfe – aufgegriffen und umgesetzt.
Ich möchte mit der Nutzung des Begriffs insbesondere dreierlei: erstens auf die Tradition von Empowerment auch der Lesben- und Schwulenbewegungen verweisen, zweitens den Begriff für die Auseinandersetzung um Motivation und Ziele historischer Erinnerungskultur fruchtbar machen und dabei drittens auf Geschichte als Ressource für Prozesse von Empowerment in und durch historisch-politische Bildungsarbeit verweisen, wobei Bildungsarbeit ein Teilbereich von Sozialer Arbeit ist. Und soziale Arbeit ist derzeit das Kernfeld staatlich finanzierter, gleichwohl schlecht bezahlter und ausgestatteter LGBTIQ-Arbeit.
Empowerment lässt sich, wie angedeutet, unterschiedlich füllen und so ist in einem kritischen Sinne zu fragen: Empowernde Erinnerungskultur? Für wen empowernd? Oder anders herum gefragt: Macht Empowerment Sinn, wenn dies auf politische Kosten anderer geht? Ob in Geschichte oder Gegenwart? Vor dem Hintergrund des bislang Gesagten liegt die Antwort auf der Hand: Mit meinem Verständnis von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur wäre dies nicht vereinbar.
Altbekannte Entnennungen
Ich will mein Plädoyer und damit die normative Setzung von intersektionalitätsbewusster und empowernder Erinnerungskultur noch aus einer anderen Blickrichtung bekräftigen:
Erinnerung ohne Nennung – das müsste ‚uns' eigentlich bekannt vorkommen – und genau das wird auch seit Jahrzehnten von ‚uns' kritisiert. Der heterosexuelle Mainstream – was immer wir darunter auch im Einzelnen verstehen mögen – betreibt ja eine von ‚uns' kritisierte Politik der Entnennung. Das Ergebnis dieser Politik besteht in der Marginalisierung, zumeist Ausblendung von nicht-heterosexuellen Lebensläufen bzw. der Auslassung von Informationen lesbischer und schwuler Lebensabschnitte oder Biografien – nicht nur in der Erinnerungskultur, zentral beispielsweise in den Medien. Denn im Grunde genommen wird Homosexualität als (makelhafte) Abweichung gesehen, was sich auch verschieden bemänteln lässt: DAS sei nicht eindeutig bewiesen, DAS sei doch – im Vergleich zu den Leistungen etc. – nicht oder nicht so wichtig, DAS sei doch letztlich ohnehin ein privater Aspekt. Das Ergebnis ist bekannt: Kaum Lesben und Schwule bei Platzbenennungen bzw. Namen von Lesben und Schwulen, die nicht als solche sichtbar sind.
Insofern nochmals: Antifeminismus und Kolonialismus, um nur zwei Beispiele zu nennen, ist genauso zu erinnern wie honoriges Engagement für Homosexuellen-Emanzipation und Verfolgungsbetroffenheit ein- und derselben Person. Lesben und Schwule heute - wie in der Geschichte – sind nicht nur schwul oder lesbisch. Sie haben unterschiedliche soziale Herkünfte, haben eine Behinderung oder nicht, sind migriert, geflüchtet oder in Deutschland geboren usw.
Die Homosexuellen-Emanzipationsgeschichte inklusive ihrer politischen Widersprüche, Schieflagen und Debakel - sie ‚gehört' allen. Aber: Nicht alle sind darin gleich adressiert. Die einen als negativ Betroffene, die anderen als Privilegierte, weitergehend als Herrschaftseingebundene.
Deshalb ist eine intersektional-herrschaftskritische Auseinandersetzung mit der Geschichte und Erinnerungskultur so bedeutsam. Hier zeigt sich, dass das Verstehen von Geschichte auch wichtig für das Verstehen heutiger politischer Widersprüche ist, für historisches Lernen, für politische Positionierungen und für das gemeinsame Streiten um Veränderung.
Abschließend fasse ich noch einmal zusammen.
Resümee
In der Debatte um Erinnerungskultur im Kontext von LGBTIQ-Kämpfen sollten zumindest die folgenden sechs Aspekte kritisch reflektiert werden:
Erstens: Die grundsätzliche Problematik individualisierter Erinnerungskultur im öffentlichen Raum – insbesondere bezogen auf Alte und Neue soziale Bewegungen. Mit der Personennamensnennung entsteht eine Reduktion auf Einzelakteur*innen, die einer sozialen Bewegung als politischer Kraft nicht gerecht werden.
Erinnerungskulturelle Alternativen zur Individualisierung, die selbstredend auch ergänzend gedacht werden können, sind Platzbenennungen, die sich auf kollektiv relevante Ereignisse, bedeutsame Begriffe oder Organisierung beziehen: "Platz des Coming Outs", "Allee der Lesbenbewegung", Straße der Abschaffung des §175" usw.
Zweitens: Überdenken des Wahrnehmungsfilters Publikationstätigkeit, der insbesondere, aber nicht nur Ausschlussmechanismen entlang von Geschlecht und Klasse produziert.
Drittens: Reflektion der rassismus- und kolonialismusbedingt dominant weißen Geschichtsschreibung, der ebenso aktiv entgegengearbeitet werden muss.
Viertens den engen Fokus auf Homosexuellenengagement weiten: also verschiedene Macht- und Herrschaftsverhältnisse intersektional in den Blick nehmen und in die Überlegungen und Entscheidungen zu Erinnerungskultur konsequent miteinbeziehen - u.a. mit dem Ziel, mit Geschichte ohne Hierarchisierungen zu empowern.
Fünftens die (potenzielle) Janusköpfigkeit und damit Zwiespältigkeit von Biografien als politisches Problem anerkennen und ernst nehmen.
Sechstens: Formen der Erinnerung finden bzw. wählen, die der Ambiguität von Biografien gerecht wird.
Die Frage, ob mit janusköpfigen Biografien eine spezifische Form des Gedenkens notwendig ist – zu nennen wäre etwa eine Gedenktafel oder besser noch eine Stele mit viel Platz für problematische Aspekte –, lässt sich teilweise leicht entscheiden. Aber ob weitergehend daraus ein Ausschluss von öffentlichem Gedenken verbunden sein sollte, auch diese Frage ist zutiefst politisch – aber sie ist nur manchmal einfach zu beantworten.
Summa summarum:
‚Wir' müssen uns grundsätzlich fragen, wie ‚wir' erinnern wollen, und auch im Wortsinne, was ‚wir' erinnern wollen. Ich schließe mich hier den Ausführungen von Ulrike Janz zur Aneignung von positivem und negativem Eigentum sowie Volkmar Sigusch an, der 2008 in seiner "Geschichte der Sexualwissenschaft" schrieb: "[N]ichts verschweigen, nichts beschönigen".
Christiane Leidinger (Berlin 9/2015)
Dieser Vortrag wird zu einem Text umgearbeitet. Zitation dieser Dokumentation bitte dahr nur in Absprache mit der Autorin. Rückmeldungen sind willkommen. Vielen Dank!
Kontakt: info(at)lesbengeschichte.org
URL https://lesbengeschichte.org/ns_erinnerungskultur_d.html
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Vorangegangener Vortrag vom April 2015
"Überlegungen zu Erinnerungskultur und Geschichtspolitik im Rahmen der Vorstellung einer Broschüre zu Persönlichkeiten in Berlin 1825-2006 der Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung bei der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen"
Es war der Input für die Sitzung des Koordinierungsgremiums "Geschichte von Lesben, Schwulen und transgeschlechtlichen Menschen erforschen und dokumentieren" im Rahmen der "Initiative Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt" des Berliner Senats, 16.4.2015.
pdf der Dokumentation hier zum Download.
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